Ich bin Jarrit Grafe und studiere Bauingenieurwesen mit dem Schwerpunkt Verkehrsinfrastruktur an der hochschule21 in Buxtehude. Das Studium ist ein duales Studium mit einem dreimonatigen Wechsel zwischen Theorie- und Praxisphase. In meiner letzten Praxisphase habe ich bei Mobycon gearbeitet. Ich habe mich vor allem mit den Unterschieden im Planungsprozess zwischen Deutschland und den Niederlanden beschäftigt.
Wenn man mit dem Fahrrad in den Niederlanden unterwegs ist, kommt man um die “geschützte Kreuzung” nicht herum. In jeder Stadt, in der ich während meines Praktikums bei Mobycon unterwegs war, kam ich auch an den Punkt, über geschützte Kreuzungen zu radeln. Ich muss zusammenfassen: Ich wusste immer sofort, wie ich mich verhalten sollte, und ja, ich fühlte mich beim Queren sicher.
Nun bin ich zurück in Deutschland und vermisse die niederländische Fahrradinfrastruktur. Warum hört der Fahrradweg hier plötzlich auf? Ist es gerade richtig, dass ich mich auf dem Linksabbiegestreifen des motorisierten Verkehrs einordne oder hätte ich vielleicht doch lieber die Fußgängerfurt nutzen sollen? Hupt der Autofahrer hinter mir, weil ich was falsch mache, oder ärgert er sich, weil er über ein kurzes Stück nicht an mir vorbeikommt?
Abbildung 1: Modell einer geschützten Kreuzung
Da jeder Knotenpunkt anders ist, treten diese Probleme jedes Mal aufs Neue auf. Selbst mit Radverkehrsanlagen frage ich mich in Deutschland manchmal, ob ich den Radfahrstreifen wirklich nutzen sollte, wenn ich dadurch zwischen zwei LKW stehe und noch nicht einmal den Signalgeber sehen kann.
Warum lassen wir uns nicht mehr von unserem Nachbarland inspirieren, wenn dort doch vermeintlich alles so gut funktioniert? Weil ich ihr Potenzial selbst erleben durfte, schaute ich mir die geschützte Kreuzung während meines Praktikums etwas genauer an.
Geschützte Kreuzungen in den Niederlanden
Geschützte Kreuzungen weisen verschiedene bauliche Merkmale auf, um die Konfliktpunkte der verschiedenen Verkehrsteilnehmenden zu verringern und die Sicherheit zu erhöhen. Zum Beispiel wird durch kleinere Radien im Kurvenbereich die Geschwindigkeit der abbiegenden Fahrzeuge verringert. Das schafft mehr Zeit, um auf anderen Verkehrsteilnehmende zu reagieren.
Zudem wird ein Aufstellbereich für rechtsabbiegende Fahrzeuge geschaffen, wenn diese auf kreuzenden Fuß- und Radverkehr warten müssen. Ein Fahrzeug kann problemlos anhalten und warten, während der Verkehrsfluss der Geradeausfahrenden nicht unterbrochen wird.
Der Radverkehr wird getrennt und versetzt vom Kfz-Verkehr geführt. Dadurch kann zum einen ein direktes Rechtsabbiegen ermöglicht werden, ohne ins Geschehen der Kreuzung zu geraten (es muss nur auf querenden Fußverkehr geachtet werden). Zum anderen soll sich die Blickbeziehung durch eine vorgezogene Haltlinie verbessern. Wartende Radfahrende können dadurch vor dem Kfz-Verkehr in die Kreuzung einfahren.
Abbildung 2: Merkmale einer geschützten Kreuzung
Geschützte Kreuzung in Deutschland anwendbar?
Für meine Projektarbeit habe ich versucht, eine geschützte Kreuzung auf einen bestehenden Knotenpunkt in meiner Hochschul-Stadt Buxtehude zu planen. Fürs Zeichnen habe ich AutoCAD genutzt. Sowohl bei der deutschen als auch bei der niederländischen Version, habe ich mich an den aktuellen Regelwerken und Best Practices orientiert. Ausgesucht habe ich mir eine Kreuzung, die nach dem aktuellen Stand der Technik nicht mehr gebaut werden dürfte: Die Kreuzung besitzt Dreiecksinseln für einen schnelleren Rechtsabbiegeprozess des Kfz-Verkehrs. Für den Fuß- und Radverkehr sind sie jedoch zu unsicher.
Tatsächlich war das Umplanen nicht so schwer wie gedacht. Aufgrund der Fläche, die vorher für die Dreiecksinseln verwendet wurde und den kleineren Radien, entsteht genügend Fläche, um die Schutzinseln und die abgesetzte Radverkehrsführung einzuplanen. Nur im Süden musste zusätzliche Fläche aufgewendet werden, da dort zuvor kein Gehweg war.
Wenn das so einfach möglich scheint, warum haben wir also keine geschützten Kreuzungen in Deutschland?
Der deutsche Kreuzungsstandard
In Deutschland nutzen wir ein anderes Modell, welches in den Regelwerken der FGSV beschrieben wird und als sicherere Variante benannt wird.
Für den Kfz-Verkehr bedeutet die deutsche Knotengestaltung mehr Komfort beim Abbiegen durch größere Radien. Es gibt jedoch keine Aufstellbereiche für rechtsabbiegende Fahrzeuge und es kann zu Rückstau kommen.
Ähnlich wie im Niederländischen ist eine vorgezogene Haltlinie für Radfahrende gängig. Diese befindet sich ein paar Meter vor der Kfz-Haltlinie und somit vor der Fußgängerfurt. Es kann an dieser Stelle zu keinen Konflikten zwischen Rad- und Fußverkehr kommen.
Das Linksabbiegen für den Radverkehr funktioniert manchmal über direkte und manchmal über indirekte Linksabbieger. Die indirekten Linksabbieger sind etwas sicherer, benötigen aber mehr Zeit, da man zwei Umlaufphasen nutzen muss. Aus diesem Grund gibt sogar Kreuzungen mit beiden Radverkehrsführungen, damit man selber entscheiden kann, wie man fahren möchte. Das ist für manche verwirrend und sorgt für keine einheitliche Führung.
Der geradeausfahrende Radverkehr wird direkt parallel zur Fahrbahn geführt, für eine bessere Sicht. Also genau das gleiche Argument, welches im niederländischen Modell für eine abgesetzte Furt genannt wird. Die Unfallforschung der Versicherer (UDV) begründet dies zuletzt mit Abbiegeassistenten von LKWs. Diese funktionieren nicht richtig, wenn die Furt zu weit abgesetzt ist. Es gibt jedoch auch Kritik an dieser Studie, zum Beispiel von Darmstadt fährt Rad.
Abbildung 3: Deutscher Standard eines Knotenpunktes
Damit befinden wir uns auch schon mitten im Diskurs und im Dilemma: Es gibt bisher keine Studien, die die Konzepte umfassend vergleichen und uns eine objektive Antwort liefern können. Mobycon arbeitet derzeit zusammen mit der TU Dresden an einem entsprechenden BASt-Forschungsprojekt. Für die Studie werden Videoanalysen an geschützten und konventionellen Knoten in Deutschland und den Niederlanden durchgeführt und detektierte Konflikte ausgewertet. Die Ergebnisse stehen jedoch noch aus.
Die Diskussion in Deutschland
Auch mit dem in Deutschland üblichen Konzept ist es möglich, eine objektiv sichere Kreuzung zu gestalten. Die Unfallzahlen in Deutschland waren 2022 unter dem EU-Schnitt. Mit einer optimierten Signalschaltung der Lichtsignalanlage und Konsistenz in der Gestaltung verschiedener Knotenpunkte kann man den Komfort und die Sicherheit noch weiter erhöhen.
Es gibt jedoch ein paar Details der geschützten Kreuzung, von denen der Radverkehr stark profitiert:
Zunächst die subjektive Sicherheit: Subjektive Sicherheit bedeutet, wie sicher man sich in einer Situation fühlt, unabhängig davon, wie sicher die Situation tatsächlich ist. FixMyCity hat dazu eine Studie durchgeführt, bei der die subjektive Sicherheit verschiedener Radwegetypen verglichen wurde. Wenig überraschend fühlen die meisten sich sicherer, wenn der Radverkehr vom Kfz-Verkehr separiert wird (das gilt übrigens nicht nur aus Sicht der Radfahrenden, sondern auch aus Sicht der Autofahrenden).
Für Kreuzungen untersuchte das Projekt Susi 3D die subjektive Sicherheit an Knotenpunkten mit Hilfe von 3D-Simulationen und qualitativen Interviews.
Durch meine Recherche komme ich zu dem Schluss, dass bei geschützten Kreuzungen die subjektive Sicherheit höher ist als bei anderen Kreuzungstypen. Höhere subjektive Sicherheit kann zu mehr Radverkehr führen, da genau denjenigen Menschen, die aus Sicherheitsbedenken nicht Fahrrad fahren, ein besseres Angebot gemacht wird.
Nur: Was bringt es uns, wenn die Radfahrenden sich zwar sicherer fühlen, die Autofahrenden jedoch vermeintlich schlechter auf den Radverkehr reagieren können?
Die Antwort ist fehlerverzeihendes Design, das automatisch durch geschützte Kreuzungen entsteht. Das bedeutet, dass Fehler passieren können, ohne zu gravierende Auswirkungen zu haben. Wird ein Radfahrender beim hier üblichen Design im Abbiegevorgang nicht gesehen, kommt es meistens direkt zu einem Unfall. In den Niederlanden hat man mehr Zeit zu reagieren, sollte die radfahrende Person im ersten Moment nicht zusehen gewesen sein.
Aber: Sollte es nicht das Ziel sein, Kreuzungen so zu gestalten, dass so wenige Fehler wie möglich passieren?
Und nun drehen wir uns wieder in dem Kreis, in dem ich mich während meiner Recherche befunden habe. Es ist nicht möglich zu einer finalen Aussage zu kommen. Immer wieder findet man neue Argumente, die gegen die geschützte Kreuzung sprechen. Und immer wieder kann man diese auch entkräftigen – bis ein neues Argument auftaucht.
Ich bin der Meinung, dass es wichtig ist, geschützte Kreuzungen zu testen. Gerade, weil es zu einem höheren Radverkehrsanteil führen kann und in den Niederlanden funktioniert. Auch wenn sich das Verkehrsklima von Deutschland unterscheidet, da die meisten Personen in den Niederlanden sowohl beim Rad- als auch Autofahren, mehr Rücksicht aufeinander nehmen und der Radverkehrsanteil bereits sehr hoch ist.
Durch Modellprojekte kann man analysieren, ob die geschützten Kreuzungen trotz aller Unterschiede auch in Deutschland möglich sind. Natürlich ist dieser Kreuzungstyp nicht die perfekte Lösung für alle Gelegenheiten. Doch es kann ein guter Ansatz sein, den Radverkehr weiter und langfristig zu fördern.
Die ersten Projekte sind schon in Planung. In Darmstadt soll die erste geschützte Kreuzung nach niederländischem Design bis 2024 entstehen.
Ich hoffe sehr, dass die geschützte Kreuzung in Darmstadt trotz aller Widerstände kommen wird. Denn wir haben in Deutschland ein Problem rund um Kreuzungen und Knoten und ich halte es hier wie Albert Einstein: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“
Abbildung 4: Links: geschützte Kreuzung in den Niederlanden – Rechts: Bestandskreuzung in Buxtehude (Quelle)
Autor: Jarrit Grafe