Im Jahr 2020, während eines weiteren Lockdowns, besuchte ich meine Eltern in Winnipeg, Kanada. Zu dieser Zeit lebte mein Vater mit stark eingeschränkter Mobilität, nachdem ein Sturz sein bestehendes Rückenleiden weiter verschlimmert hatte. Dadurch waren Hausarbeit, Spaziergänge in der Freizeit oder andere normale Alltagsaktivitäten praktisch für ihn unmöglich. Rein zufällig erhielten wir während dieses Besuchs einen Anruf des Chirurgen. Dieser teilte uns mit, dass ein Platz für eine rekonstruktive Wirbelsäulenoperation frei geworden war. Neun Stunden, zwei Stahlstangen, zehn Schrauben, ein paar Dutzend Klammern und unzählige Schmerzmittel später hatte er eine neue Wirbelsäule.
Ich freue mich berichten zu können, dass mein Vater nach zwei Jahren der Heilung und intensiver Physiotherapie wieder auf den Beinen ist. Er unternimmt zwar keine langen Wanderungen, aber er bewegt sich unabhängig und mit weniger Schmerzen, was schon ein Fortschritt ist. So sehr, dass er sich sogar entschlossen hat, wieder auf sein Fahrrad zu steigen. Motorisch war er auch in der Lage wieder Fahrrad zu fahren, nur reichte seine Kraft noch nicht aus, um ein gleichmäßiges Tempo beim Treten zu halten.
Als sich die Situation entspannte und er sich wieder in sein soziales Leben einbringen konnte, empfahl ein Freund meinem Vater mal dessen E-Bike auszuprobieren. Die Tretunterstützung ermöglichte es ihm, das Tempo zu halten und Strecken zu fahren, die er mit einem normalen Fahrrad nicht bewältigen konnte. Nach einigem Zögern – und vielen Stunden der Internetrecherche – tat er es: Er kaufte sein eigenes E-Bike. Es überrascht vielleicht nicht, dass meine Mutter, die noch nie gerne mit dem Fahrrad in der Stadt unterwegs war, schnell von den Vorteilen überzeugt war und sich ebenfalls ein E-Bike kaufte. Jetzt können meine Eltern regelmäßig gemeinsam durch ihre Gemeinde und Stadt radeln.
Diesen Sommer bin ich wieder für einen Familienbesuch in meine Heimatstadt gereist. Abgesehen von dem Besuch im Winter 2020 war es vier Jahre her, dass ich meine Großfamilie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte und mit dem Fahrrad eine Runde durch die Stadt drehen konnte. Der Besuch war sehr schön, aber das Beste war, dass mein Vater wieder besser zu Fuß war. Außerdem konnten wir dank seines E-Bikes gemeinsam Winnipeg erkunden und dabei das stetig wachsende Netz an geschützten Fahrradwegen in der Stadt nutzen. Wenn ich schon in der Theorie überzeugt war, so bin ich es jetzt zweifellos auch in der Praxis: E-Bikes sind ein Wendepunkt. Dank seines E-Bikes können mein Vater und ich nicht nur mit dem Fahrrad fahren, sondern es ermöglicht ihm auch, einige der kurzen Fahrten zu ersetzen, die er sonst mit dem Auto zurücklegen würde.
Allerdings sind E-Bikes nicht nur für Menschen mit eingeschränkter Mobilität geeignet. Da das Haus meiner Eltern am Stadtrand liegt und bereits 13 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt ist, habe auch ich die zusätzliche Reichweite des E-Bikes genutzt und bin weiter und länger geradelt, als es mir ohne die elektronische Tretunterstützung möglich gewesen wäre.
Obwohl die hohen Preise E-Bikes für viele zu einem unerschwinglichen Luxusgut machen, sollte ihr Potenzial das Mobilitätsverhalten der Vorstädter zu verändern als Chance gesehen werden – insbesondere in Verbindung mit Subventionen und Anreizen wie sie in ganz Europa eingeführt werden. Eine weitläufige (vor)städtischen Entwicklung ausgelegt auf den Autoverkehr mit weiten Entfernungen zu Orten der Grundversorgung in Kombination mit einer einheitlichen Flächennutzung haben zu einer entmutigenden Fahrradumgebung geführt. Die städtebaulichen Fehler der Vergangenheit lassen sich nicht von heute auf morgen beheben, aber in der Zwischenzeit zeigt das Beispiel meines Vaters, dass das E-Bike dabei helfen kann dieses Ziel zu erreichen, indem es Menschen aller Altersgruppen und Fähigkeiten eine Alternative zum Auto für kurze und mittlere Strecken bietet.
Alles in allem bot mir meine Heimreise nicht nur die Gelegenheit meine Familie wiederzusehen, sondern auch Einblicke zu gewinnen, wie sich die Radfahrpraxis in Nordamerika nach Covid verändert hat. Ich finde es ermutigend, wie viele Menschen sich wieder auf den Sattel schwingen, sei es für den Arbeitsweg oder zur Freizeitgestaltung. Vor allem meine Eltern.
‚Obwohl wir stark von unserer Umwelt beeinflusst werden, kann eine effektive Stadtgestaltung uns helfen, nachhaltige, gesunde und sichere Entscheidungen zu treffen. Nicht, weil wir uns dann unserer Entscheidungen bewusster sind – sondern weil wir es nicht sind. Ein guter Städtebau macht die „richtige“ Wahl leicht. Um dies zu erreichen, bevorzuge ich außergewöhnliche Ansätze zur Erforschung und Entwicklung von Lösungen für städtische Probleme.‘
Berater für städtische Mobilität
s.kurz@mobycon.nl