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Eine Narrativ-Veränderung von Geschwindigkeit zu Bequemlichkeit, auch in der Fahrradplanung

„Ich mag diese alten, langsamen Hollandräder nicht. Ich möchte ein Fahrrad haben, das schnell fährt“, sagte Gunnar Fehlau, ein Fahrradlobbyist und Autor, während der Konferenz Fahrradparken am Bahnhof in Berlin. Wieder hörte ich einen Appell für mehr Geschwindigkeit für Fahrräder und damit auch implizit für mehr Infrastruktur für schnelles Radfahren. Und diesen Appell hörte ich nicht zum ersten Mal. Wie oft ich in Räumen mit (weißen, fitten, meist männlichen) Fahrradenthusiasten war, die für mehr Geschwindigkeit plädierten, ist fast unzählbar.

Radschnellwege und schnelle Fahrräder

Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Treffen einer Radfahrenden-NGO in einem Dorf in der Nähe von Berlin, wo man sich mit der Planung von Hochgeschwindigkeits-Radschnellwegen beschäftigte, einer Art Fahrrad-Autobahnring. Einer der Anwesenden kam mit einem Liegerad in Form einer Rakete an, das locker 40 km/h fahren konnte. Alle waren fasziniert.

Fast überall in Deutschland höre ich das wiederkehrende Narrativ für Radschnellwege, die zum „Verlagerungspotenzial“ beitragen könnten. Selbst in den progressiven „linken“ Ecken Deutschlands, wie z.B. auf der Online-Website Utopia, wird das Narrativ von Radschnellwegen und Geschwindigkeit als die Lösung angesehen.

Die deutsche Politik hat es damit geschafft, das Geschwindigkeitsnarrativ in den Köpfen der Deutschen zu institutionalisieren. Von der Linken bis zur Rechten setzt sich jeder in Deutschland für Geschwindigkeit im Verkehr ein und verbindet sie mit Effizienz. Und wer kann schon gegen Effizienz sein? Und jetzt soll es auch bei der Radverkehrsplanung um höhere Geschwindigkeiten und mehr Effizienz gehen, genau wie bei allen anderen Planungen.

 

Der Teufelskreis aus Geschwindigkeit, Zersiedelung und immer mehr Verkehr

Man hört vielleicht schon, dass ich gegen mehr Geschwindigkeit bin (mehr als 20 km/h in urbanen Gebieten). Und vor allem bin ich auch dagegen, dass man sich auf die Effizienz eines bestimmten räumlichen Sektors in unseren Städten konzentriert, in diesem Fall auf den Verkehr. Wenn man die Verkehrseffizienz als wichtiger ansieht als alle anderen möglichen Funktionen im öffentlichen Raum, macht das die Städte unattraktiv, unlebendig und es führt zu allen möglichen nicht nachhaltigen Nebeneffekten.

Um dies zu erklären, ist es wichtig zu verstehen, was eine Erhöhung der Geschwindigkeit der Verkehrsmittel für die Städte im Allgemeinen bedeutet. Die Geschwindigkeit hat einen direkten Einfluss auf die Ausdehnung der Städte. Stell Dir vor, Du kannst 40 km/h fahren. Das bedeutet, dass Du in einer halben Stunde eine Strecke von durchschnittlich 20 km zurücklegen kannst. Warum solltest Du in diesem Fall noch in der Innenstadt wohnen wollen? Zieh doch einfach in ein schönes Haus im Berliner Speckgürtel, wo das Wohnen günstig ist. Und warum sollte man in einem kleinen Geschäft vor Ort einkaufen und nicht in einem weiter entfernten Kaufland? Kleine Läden würden schließen müssen, wenn viele Leute das tun. Dieses Phänomen wird als Urban Sprawl, auf Deutsch als Zersiedelung oder Ausdehnung, bezeichnet.

Um es kurz zu machen: Höhere Geschwindigkeiten führen zu immer größeren Entfernungen und mehr Verkehr. Größere Entfernungen führen dazu, dass mehr Infrastruktur und schnellere Verkehrsmittel gebaut werden müssen, um noch schneller zu werden. Und das führt wiederum zu immer größeren Entfernungen. Ein nie endender Teufelskreis. Dies gilt für den Pkw-Verkehr, zum Teil aber auch für andere Verkehrsmittel, z. B. das Fahrrad.

 

Der „Teufelskreis der Autoabhängigkeit“  © TUMI (2021).

Aber es funktioniert auch andersherum. Wenn man die Geschwindigkeit reduziert und eine langsamere Infrastruktur schafft, dann wollen die Leute plötzlich zurück in die Stadt. Und die städtischen Funktionen wie Geschäfte, Bars, Supermärkte und Bibliotheken haben plötzlich mehr Kundenpotenzial und öffnen. Es findet ein positiver Kreislauf statt. Das Narrativ hiervon heißt „verschwindender Verkehr“ und hängt mit dem Konzept der „Erreichbarkeit“ zusammen.

 

Sicherer und inklusiver urbaner Raum

Aber eine hohe Radfahrgeschwindigkeit, vor allem in der Innenstadt, hat mehr negative Nebenwirkungen als mehr (E-Bike-)Verkehr und Zersiedelung. Erstens vermindert sie die Sicherheit im öffentlichen Raum (Straßen). Dadurch verringert sich der Wert aller anderen möglichen städtischen Funktionen dieses Raums. Ein Radschnellweg, auf dem Kinder spielen können. Das wäre gefährlich. Oder eine große Radschnellstraße, auf der die Leute einfach die Straße überqueren können, um sich zu treffen und miteinander zu reden oder ihren Hund Gassi zu führen. Auch gefährlich.

Aber ein langsamer, multifunktionaler Raum, in dem sich Radfahrende und Fußgänger*innen in einem akzeptablen Verhältnis zur Geschwindigkeit des anderen bewegen und mit ihrem Körper und ihren Augen kommunizieren können. Das funktioniert und ist sicherer. Ein langsamerer Raum erlaubt sogar unregelmäßige Stopps der Radfahrenden. Ein kurzer Gruß an den Nachbarn, der mit dem Fahrrad vorbeikommt, oder ein Halt in einem Geschäft, um ein Getränk zu kaufen oder einfach auf einer Bank zu sitzen.

Eine niedrigere Geschwindigkeit trägt zweitens außerdem  zu einem inklusiveren Verkehr bei. Wenn wir wollen, dass unsere Großmütter, Schwangeren, kleinen Jungs und Migrant*innen mit begrenzter Fahrraderfahrung alle Teil unseres städtischen Umfelds werden, sollten wir die Geschwindigkeit reduzieren. Wir sollten uns alle sicher fühlen, indem wir uns „langsam“ aber reibungslos im öffentlichen Raum bewegen. Und wer braucht eigentlich noch einen Helm, wenn das Radfahren mit 20 km/h bei all diesen sozialen Interaktionen und begrenzten Konflikten problemlos möglich ist?

Es ist sehr schwierig gegen das Geschwindigkeitsnarrativ anzukämpfen, weil es so tief in den Köpfen der Menschen verankert ist und immer wieder wiederholt wird. Manchmal nicken Menschen zustimmend, wenn ich meine Gedanken zu den Themen aufzeige. Und 5 Minuten später höre ich sie schon wieder über Geschwindigkeit und Effizienz reden. Über ihr nächstes Radschnellwegprojekt.

 

Mobycons Good Street Approach

Aber es kann auch anders gehen. Bei Mobycon haben wir den sogenannten „Good Street Approach“ entwickelt. Bei diesem Ansatz geht es bei dem Entwurf von Straßen um andere Themen als die größtmögliche Effizienz und Geschwindigkeit. Die erste Priorität dieses Ansatzes ist die Sicherheit. Sicherheit für alle, also für zu Fuß Gehende, Radfahrende, Autofahrer*innen und alle anderen Verkehrsteilnehmenden. Die Sicherheit wird dann mit den städtischen Funktionen eines bestimmten Gebiets oder einer Straße kombiniert. Gibt es eine Straße mit vielen Bars und Geschäften oder mit einer Schule? Dann ist es sinnvoll, sie als 10- oder 20-km/h-Straße zu gestalten. Gibt es eine Straße, auf der nicht viel los ist und auch in Zukunft nicht viel los sein wird? Dann sollten wir die Straße für 20 km/h oder sogar für etwas mehr (30 km/h) planen, wenn der Wunsch besteht, den Autoverkehr mit einzubeziehen. Auf diese Weise werden Raum und Verkehr miteinander verknüpft. Nicht nur auf Straßen-Ebene, sondern auch auf Netzwerk-Ebene.

 Methodik der „Good Street Approach”  © Mobycon

Der größte Schritt bei der Verkehrssicherheit und der nachhaltigen Stadtentwicklung fängt meiner Meinung nach mit einem Narrativwechsel an. Ein Wechsel weg von Geschwindigkeit und Effizienz hin zu Sicherheit und Inklusion. Ein Wechsel zum übergreifenden Wort ‘Bequemlichkeit‘. Bequemlichkeit, um Ziele zu erreichen (Supermarkt, Arbeit, Schule, Sport).  Und die Bequemlichkeit, sich mobil und sicher im öffentlichen Raum zu bewegen. Der „Good Street Approach“ ist damit eine geeignete Entwurfsmethodik für die tatsächliche Umsetzung des Bequemlichkeitsnarrativs.

Was denken Sie über das Thema? Nehmen Sie an unserer Umfrage teil.

 

 

 

 

Erik Ooms

‚Wir müssen unsere Städte in attraktive, klimaneutrale und soziale urbane Räume umwandeln. Aktive Mobilität (Fahrrad und zu Fuß), öffentliche Verkehrsmittel und kurze Wege sind hier von zentraler Bedeutung. Ich möchte zusammen mit anderen Organisationen, praxis- und wirkungsorientierte Forschung betreiben, wobei wir das Rad nicht neu erfinden, sondern voneinander lernen und Wissen und Erfahrungen zwischen Länder und Regionen austauschen.‘

Projektentwickler
e.ooms@mobycon.com

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